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Ruben und die Weihnacht - Teil 3

Nur eine dicke, große Holztür mit einem alten Schloss trennt die Kinder in der Winterkirche von den Zuschauern in der großen Kirche, die nach und nach durch die Haupttür hereinkommen. Noch ist Tumult. Viele treffen Menschen, die sie lange nicht gesehen haben. „Hier sind noch zwei Plätze frei“, ruft eine ältere, kleine Frau mit feinem Hut und dickem Pelz ihre Tochter heran, die gerade mit ihrem Mann suchend durch den Gang in der Mitte läuft. Und so finden sich alle allmählich ein, nehmen ihre Mützen und Schals ab und vertiefen sich in leise Gespräche. Während sie langsam Ruhe finden, steigt die Aufregung der Kinder nebenan.

„Ich weiß meinen Text gar nicht mehr“, sagt Paul verzweifelt dem Pfarrer, der seinen Talar noch einmal zurechtrückt und noch ein paar Requisiten aus einer Holzkiste holt und einigen Kirchenältesten in die Hände drückt. Sie helfen dabei die Umhänge anzulegen und mit Sicherheitsnadeln zu befestigen, damit keine Jeans und dicken Pullover, die die Kinder darunter tragen, zu sehen sind. „Wann muss ich nach vorn?“, fragt Karl eine der Damen. „Keine Angst, versucht sie den Jungen zu beruhigen. „Du bekommst ein Zeichen, wenn es soweit ist.“ Sie steht für den Notfall als Souffleuse unsichtbar fürs Publikum nah bei den Kindern in einer kleiner Nische im Altarraum.

Der Pfarrer drückt indes Ruben noch einen Hirtenstab in die Hand. Schon viele Kinder vor ihm hatten bei den Krippenspielen eben jenen Hirtenstab bei der Aufführung benutzt. Und genau so sieht er auch aus. Ruben fallen die vielen Kerben auf, die von Fingernägeln kleiner Kinderhände stammen. Je aufgeregter sie waren, umso mehr knibbelten sie an den abgeknipsten Ästen herum. Kein Stück Rinde war mehr an dem oberen Drittel des Stabes.

Mit jeder Minute die vergeht, werden die Worte immer mehr. Das kleine und zurückhaltende Engelchen, das die Verkündigung jeden Tag mehrmals geübt hat, starrt abwesend auf seine Kerze. Der Pfarrer wirft noch einen Blick auf seine Armbanduhr und legt den Finger auf den Mund. „Pssssssst.“ Die Kinder werden ganz still. Er öffnet vorsichtig die Tür, streckt den Kopf heraus und gibt einem Helfer der Kirche mit einem Nicken das Zeichen. Gleich soll es losgehen. Durch eine Hintertür gehen nun alle hinaus, während der Helfer die Tasten drückt, die die Kirchenglocken hell läuten lassen. Im Gänsemarsch eilen die Kinder zur großen Kirchentür, flüstern sich nur leise Sätze wie: „Ich bin so aufgeregt“, „Ich weiß meinen Text nicht mehr“, zu.

Die Glocken hören auf zu schwingen, der Klang endet und der Puls der Kinder steigt. Ein Junge darf das Kreuz tragen, er ist an der Spitze der Reihe. Dahinter folgen Maria und Josef, dann erst alle anderen. Die Menschen stehen auf, als die Kinder vorbei ziehen — ein Anblick der Gänsehaut verschafft, denn sie zeigen Demut und Respekt. Die Kinder spüren es und mit jedem Schritt den sie gehen werden sie größer und selbstbewusster. Als die Kinder die ersten beiden Reihen, die mit „Besetzt“-Schildern für sie reserviert waren, besetzen, drehen sich die Köpfe noch einmal zum Publikum. Alle suchen in der Menge ihre Familien. Ruben weiß gleich, wohin er schauen muss. Wie immer stehen seine Eltern auf der ersten Empore, gleich in der Mitte, dort gibt es den besten Ausblick. Er winkt zaghaft und seine Eltern winken freudig zurück und zeigen ihm an, dass sie ihm fest die Daumen drücken. Nach einigen Minuten und nach ein paar Worten des Pfarrers beginnt das Spiel der Kinder.

Ruben bearbeitet ebenso wie seine Vorgänger den Hirtenstab ohne es zu bemerken. Seine Augen wandern unterdessen immer wieder zu seinem Sitznachbarn, der sich den Text seiner Szene ganz klein auf den Handrücken schrieb. Rubens Blick versteift sich - warum kam er nicht auf so eine Idee? Gemeinsam mit den beiden anderen Hirten steht er auf. Jetzt ist es soweit. Sie stapfen auf die Bühne und setzen sich um ein angedeutetes Lagerfeuer.

Der Helfer schleicht sich zu den Lichtschaltern und knipst eine Lampe nach der anderen aus. Nur oben auf der Kanzel leuchtet es noch hell und noch heller wird es, als der kleine Engel sich an den Rand der Kanzel stellt. Mit klarer, selbstsicherer Stimme und einem wunderschönen Lächeln sagt sie ausdrucksvoll: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ Ein ganz leises Raunen geht durch die Bankreihen und die Menschen schauen zu ihren Nachbarn und deuten auf ihre Arme als wollten sie sagen: Ich habe Gänsehaut bekommen. Der Pfarrer nickt zufrieden und lächelt wohlwollend, weil sich der kleine Verkündigungsengel die Worte so angenommen hatte. Und auch das Mädchen ist erleichtert und vor allem stolz.

Die Lichter werden nach und nach wieder eingeschaltet. Ruben ist an der Reihe, seine Wangen sind knallrot. „Habt ihr das auch gesehen?“ Die Hirten beraten sich und beschließen, das Kindlein in der Krippe zu suchen. Sie treten ab und als Ruben wieder auf seinem Platz sitzt, dreht er sich abermals zu seinen Eltern um, die ganz stolz einen Daumen nach oben heben und ihn liebevoll anlächeln. Ruben ist glücklich. Nur noch ein Mal muss er auf die Bühne gehen, am Ende, wenn sich alle an der Krippe treffen.

Es dauert nicht lang, bis der Helfer die schwere Holzkrippe auf die Bühne legt und einen Stuhl für Maria dazustellt. Die drei Weisen aus dem Morgenland, die dem Stern folgten, kommen hinzu und überreichen mit vielen Worten ihre Gaben. Dann kommen auch die drei Hirten dazu. Rubens Puls steigt. „Es stimmt, was der Engel berichtete“, sagt Ruben. Es ist kurz still. „…Tom…“, flüstert Maria mahnend. Tom schaute verzweifelt zur Souffleuse, die ihm seine Zeilen zuflüsterte. Er wiederholte sie etwas stockend und auch leicht improvisiert, weil er nicht gleichzeitig reden und zuhören konnte. Die anderen Kinder kichern leise - sie kennen doch ihren Tom, aber das Publikum merkt nichts. Das Durcheinander auf der Bühne, die vielen Worte und verpatzten Einsätze verunsicherten Ruben. Erneut ist es still. Die Blicke der anderen Kinder gehen zu ihm. Ruben ist dran, kann sich aber überhaupt nicht mehr an seine Zeilen erinnern. Er schaut zum Pfarrer, der ganz vorn in der ersten Reihe sitzt. Er lächelt Ruben nur an - genauso wie da, als er ihm sagte, was sein Name bedeutet. Da fällt es Ruben wieder ein! Die letzten Worte, die ihm bei diesem Krippenspiel gehören. Andächtig dreht er sich um und schaut in die Krippe, in der symbolisch eine Kerze brennt. Das Publikum weiß die Kunstpause zu schätzen, es spürt, dass es um Ehrfurcht geht. Ruben wendet sich wieder dem Publikum zu und richtet den Blick in die Höhe: „Sehet, ein Sohn. Der Sohn Gottes. Das Licht der Welt.“


Die Orgel setzt ein und alle Menschen in der Kirche beginnen „Stille Nacht“ zu singen.


Rubens Eltern wischen sich die Tränen von den Wangen. Den Anblick vom Ruben zwischen all den anderen Kindern im Altarraum und der Krippe, den hübschen Kostümen und den Klang der Stimmen, werden sie nie vergessen.

Und ebenso wohlwollend wie der Pfarrer schauen auch alle anderen Menschen auf die Bühne zu den Kindern. „Weihnachten ist nicht Weihnachten ohne das Krippenspiel“, flüstert ein Mädchen im Publikum ihrer Mutter zu, als die letzten Töne des Liedes, „Schlaf in himmlischer Ruh“, erklingen.



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